in Bassenheim am 17. Juni 2012
Mit einer skulpturalen Anlage an dieser exponierten Stelle in Bassenheim ist es gelungen, ein Markenzeichen der Stadt zu errichten und den Erlebniswert des Stadtraumes zu steigern. Der Ort bezieht seine historische Aura aus der denkwürdigen Begegnung von Konrad Adenauer und dem französischen Außenminister Robert Schuman, die – bereits ausführlich gewürdigt – als bedeutsamer Schritt zur Verständigung zwischen französischem und deutschem Volk und als Impuls für die Annäherung der Völker Europas gilt. An die durchaus ungesicherte Perspektive der Gemeinschaft Europas erinnert dieses Gedenkzeichen.
Der Bassenheimer Initiativkreis beauftragte den Thüringer Künstler Harald Stieding, der in den vergangenen Jahrzehnten bereits eindrucksvolle Denkzeichen für den öffentlichen Raum schuf. Der 1940 geborene Bad Langensalzaer Künstler, der nach seiner Arbeit als Steinmetz und dem Studium an der Fachschule für Angewandte Kunst in Leipzig seit 1969 freischaffend wirkt, bekennt sich zu der uralten Idee und Überzeugung von der menschlichen Gestalt als hauptsächlichen Ausdrucksträger der Kunst und bindende Mitte. Denn immer wieder kreist im Kraftfeld um das Gravitationszentrum der Kunst die Figur.
Auf dem Grundriss eines regelmäßigen, Vollendung symbolisierenden Zwölfecks erheben sich zwölf schwarze Stelen, deren kleinsten, der höchsten gegenüber, paarig in fünf Stufen anwachsende folgen und mit jener, von einer Europa-Skulpturengruppe bekrönten, abschließen. Die Stelen in ihrer Zwölfzahl versinnbildlichen, ähnlich den zwölf Stämmen Israel, die Gesamtheit europäischer Länder und zudem, wie sich in den Monaten das Jahr rundet, die notwendigen Schritte zu ihrer Einheit. Sie verkörpern in ihrem schrittweisen Ansteigen – von 60 cm auf 2,40 m – den Prozess zu der nie erreichbaren Vollendung Europas und pars pro toto das Wirken der Väter Europas, deren Reigen mit Karl dem Großen beginnen und beispielweise auch für Joseph Wirth wie Papst Benedikt XV. als Stelen-Heilige von 1917 Platz bieten könnte. Doch aus bekanntem Grund werden aus der Nachkriegsgeschichte Konrad Adenauer und Robert Schuman herausgehoben und ihre Porträts auf zwei Mentinger Basalt-Tuff-Sockel aus der Eifel gestellt, die sich in 1,50 m Höhe in der Mitte des Zwölfeckes gegenüberstehen und somit virtuellen Raum für spätere Väter lassen.
Die zahllosen Fotoeindrücke von Adenauer und Schuman hat der ausgewiesene Porträtist Stieding nicht zu einer stilisierenden Darstellung verschmolzen, sondern er ließ in die Bildnisse zufällige wie wesenhafte, individuelle wie situative Momente einfließen, um durch vielschichtige Ausdrucksnuancen Lebendigkeit zu gewinnen. Ihre Befindlichkeit bricht als innere Struktur in die Oberflächenstruktur durch. Gänzlich anders gelangte Rodin zu seiner Lösung, innere Verfasstheit äußerlich zu machen, indem er seiner Marmorbüste der lieblichen Schriftstellerin Helen von Nostiz eine wunderbar zarte Oberflächenglättung gab.
Den Schlussstein der Anlage bildet ein großes Bronze-Medaillon mit dem Bassenheimer Wappen und Schloss, umkreist von den angeschliffenen und hell angeriebenen zwölf Sternen der europäischen Flagge. Doch die Krönung bilden Stier und Europa. Alles aus heller Bronze, hier im Wachsausschmelzverfahren, dort im Sandgussverfahren entstanden.
Diese „Bassenheimer Reiterin“ könnte gemeinsam mit dem Bassenheimer Reiter, dem europaweit sozial wirkenden Hl. Martin, das Patronat für unseren friedlich werdenden Kontinent tragen, als freundlich-intime Gegenstücke zu dem Koblenzer Denkmal am Deutschen Eck, den Kurt Tucholsky als gegen Frankreich gerichteten „Faustschlag aus Stein“ empfand.
Unseren Memorialort bestimmt eine parabelhafte, mythologische Bildsprache. Harald Stiedings berühmter Kollege Gerhard Marcks, der im nahen Niederdürenbach tätig war, sah im antiken Griechenland den „Modellfall für Europa“ und sagte: “Mnemosyne Erinnerung ist die Mutter der Künste. Unsere Gedanken über die Kunst sind Auslegungen der griechischen Gedanken.“
Dem Mythos nach, bediente sich der Göttervater Zeus (Jupiter) auf Abwegen der Verwandlungskunst. Den Jüngling Ganymed griff er sich als Adler; bei Danae kam er als regnendes Gold, bei Leda als Schwan. Doch die schöne Europa raubte Zeus als Stier. Der Gewaltakt begann mit Verführung. Als schöner weißer Stier ließ er sich auf einer Wiese des phönikischem, jetzt syrischem Gestade zwischen Blumen nieder. Mit ihren Gespielinnen näherte sich die Königstochter dem ruhenden Tier ohne Scheu. Es war das Mädchen Europa, in das er sich verliebt hatte und das, als er seinen Kopf ihr zuwandte und sanft auf sie blickte, sich vertrauensvoll auf ihm Platz nahm, sein Fell kraulte und einen Blumenkranz aufsetzte. Nun erhob sich der Zeus-Stier, begann zu laufen und durchschwamm mit Europa auf dem Rücken das Mittelmeer bis zur Insel Kreta, also eine Strecke von ca. 800 Kilometern. Als sie den neuen Kontinent erreichten, verlor Zeus die Stiergestalt und zeugte menschengestaltig mit Europa unter einer immergrünen Platane, die noch heute bei Gortys den Touristen gezeigt wird, den Minos. Er und seine Brüder, erzogen vom kretischen König, mit dem sich Europa vermählt hat. Zur ehrenvollen Erinnerung an die Vereinigung von menschlicher Götterbraut und Göttervater erhielt unser Erdteil den Namen Europa.
Die Anlässe liegen auf der Hand, weshalb der Raub und die Familiengeschichte der Europa, die auch keine besondere Referenz für privilegierte Partner der EU darstellen, bevorzugt kritisch rezipiert wurden. Als Vereinigte Staaten von Europa spukte der Mythos Europa seit Napoleon durch die Politikgeschichte. In der Ikonografie symbolisiert traditionell der Stier und die Europa den Erdteil Europa, vor allem mit der Paneuropa-Bewegung seit 1923. Im deutschen Faschismus versinnbildlichte die großdimensionierte Europa-Anlage in Wiesbaden von 1937 die Unterwerfung des europäischen Kontinents unter ein antikisch-idealisiertes Deutschtum. Mit dem Europa-Gedanken nach dem 2. Weltkrieg und mit Gründung der westeuropäischen EWG, dann EG und EU differenzierte sich der Typus weiter aus und expandierte mit der Vorbereitung der Einführung des Euro und mit einigen gewaltigen europaweiten Skandalen, wie der Einführung der Bio-Technologie, die dem Europa-Raub neue und schreckensvolle Züge verlieh. Bei der Konstituierung Europas zerren gegensätzliche nationale Interessen mit ihren verschieden gewichteten Stimmen von unterschiedlichen Enden an den projektierenden Instrumenten.
Das mythologische Thema weist bei Stieding über die zeitgemäße Ideologie hinaus und deutet ohne karikierende Stilzüge Probleme des Zusammenlebens der europäischen Völker an. Ein Wesenselement der Stier-Europa-Gruppe ist Ambiguität, in welcher der Stier als Angst einflößende Gewalt erscheint, doch zugleich als vertrauenserheischende Kraft. Sie vertraut sich der Stärke des wehrhaften Tieres an und bleibt hellwach.
Vom realistischen Abbild spielen die Formen des Stieres und Europas zu biomorphen Strukturen hinüber, welche Baumassoziationen wecken, oder abstraktere spiralige Drehungen, die Stabilität, Kraft und vor allem Bewegung assoziieren. Europa im Damensitz ist auf dem Weg. Der Wind der Geschichte geht durch ihr langes Haar, das sie mit der Hand bändigt, um freien Blick zu gewinnen für das Unterwegssein zum Sehnsuchtsort menschlicher Gemeinsamkeit.
Prof. Dr. Peter Arlt (Gotha)